Dr. May erklärt die Welt

Eines vielgereisten Mannes
Lebensweisheiten & Ratschläge
für alle Lebenslagen

Das geistige Sehen und Hören des Westmanns

»Pshaw! Es ist nicht bloß der Scharfsinn, der mich auf sie bringt, sondern noch etwas anderes, wofür es aber keinen treffenden Ausdruck giebt. Der Westmann eignet sich nämlich nach und nach einen, ich will sagen, sechsten Sinn an, auf den er sich ebenso wie auf die fünf eigentlichen Sinne verlassen kann. Es ist das eine Art geistigen Sehens oder Hörens, eine geheimnisvolle Art der Wahrnehmung, welche nicht von Licht- oder Schallwellen abhängig ist. Man möchte ihn den Ahnungs- oder den Vermutungssinn nennen, wenn Vermutungen und Ahnungen nicht etwas so Unbestimmtes wären, denn dieser sechste Sinn trifft das Richtige mit ganz derselben Sicherheit, wie das Auge einen vor ihm stehenden Gegenstand erfaßt. Der Westmann hat sich diesen Sinn ganz in derselben Weise nach und nach anzuüben, wie das Kind auch erst durch lange Uebung die Fertigkeit gewinnt, sich seiner Sinne zu bedienen; dann aber, wenn man ihn einmal besitzt, kann man sich auf ihn ebenso fest wie auf das Auge oder das Ohr verlassen; ja, es kommt sogar nicht selten vor, daß er den Ausschlag giebt, wenn die Ergebnisse von Gesicht und Gehör einander widersprechen. Kein Mensch besitzt diesen Sinn in so hoher Schärfe und Entwickelung wie Winnetou. Ich bin doch gewiß kein Neuling, aber es hat Fälle gegeben, in denen selbst ich im höchsten Grade über die Sicherheit erstaunte, mit welcher er Dinge vorhersagte, auf welche ich mit all meinem Scharfsinn nicht gekommen wäre. Diese Ankündigungen sind dann stets so genau in Erfüllung gegangen, als ob er die betreffenden, in der Zukunft liegenden Verhältnisse ganz deutlich vor seinen Augen gehabt hätte. Wenn ich diesen Sinn nicht auch besäße, wäre ich da wohl zuweilen versucht gewesen, anzunehmen, daß er zu den Menschen gehöre, welche mit dem sogenannten ›zweiten Gesicht‹ begabt sind. […].«

Weihnacht!« (1897)
F 24, S. 315 f.
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