Dr. May erklärt die Welt

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Die allerschwierigste Aufgabe des Prairiejägers

Eine der schwierigsten, wo nicht die allerschwierigste Aufgabe des Prairiejägers ist das Anschleichen an den Feind. Es gehört nicht nur eine jahrelange Uebung, sondern auch geradezu eine natürliche Begabung dazu, sich auf die vollständig unhörbare Weise eines wilden, reißenden Thieres einem Gegner zu nähern, der alle seine Sinne auf das Aeußerste anstrengt, diese Annäherung zu bemerken. […]

Schon die Annäherung an einen einzelnen Feind ist schwer. Man muß jeden Vortheil des Terrains berücksichtigen, jede Deckung benutzen, die Lage jedes Zweiges, jedes Blattes berechnen; da gibt es zu Rathe zu ziehen die Farbe der Erde und der Umgebung, die Richtung des Luftzuges, die Anwesenheit von Vögeln und anderen Thieren, deren Flucht Einen verrathen würde. Da schleicht man, den Leib tief an der Erde, aber doch so, daß er den Boden nicht berührt, nur auf den Spitzen der Zehen und der Finger, was große Körperkraft erfordert und außerordentlich anstrengend ist; da gilt es, die Gestalt eines Baumstumpfes oder Steines anzunehmen und oft eine Geduld zu entfalten, welche den Geist ermüdet und den Körper entkräftet.

Schlimmer noch ist es, eine große Mehrzahl anzuschleichen, da es dann gilt, die Aufmerksamkeit Vieler zu täuschen. Ist es am Tage, so wird man leichter gesehen, aber man befindet sich ja auch selbst in der Lage, Alles genau sehen, beobachten und benutzen zu können. Ist es bei Nacht, so befindet man sich allerdings unter dem Schutze der Dunkelheit, aber diese Letztere birgt wiederum die größten Gefahren in sich. Jeder Augenblick kann die Entdeckung bringen und mit ihr den unvermeidlichen Tod.

Im »Wilden Westen« Nordamerika’s (1883)
KMW IV.27, S. 57 f.
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