Dr. May erklärt die Welt

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Über die geheimen Erkennungszeichen in der Wildnis

Nun galt es, Winnetou zu finden. Das scheint schwerer zu sein, als es eigentlich war. Wir hatten uns schon öfters getrennt und doch selbst in der felsigsten Einöde, im tiefsten Urwalde wiedergefunden. Wir hatten unsere Zeichen, die kein anderer bemerken konnte.

Ich ritt das Wasser entlang und beobachtete die in demselben liegenden Steine. Da, bereits nach einer Viertelstunde, bemerkte ich zwei neben einander im Wasser liegende Kiesel, zwischen denen drei dünne Zweige eingeklemmt waren; zwei waren kahl, und der dritte hatte seine Seitenästchen und Blätter noch. Die Spitze zeigte aufwärts. Das war eines unsrer Zeichen. Winnetou hatte es errichtet. Die Spitze des belaubten Zweiges sagte mir, wohin er geritten sei, und die beiden andern Zweige zeigten genau gegen den Punkt des Himmels, wo die Sonne zu der Zeit gestanden hatte, an welcher er das Zeichen errichtete. An der Frische der Blätter konnte ich den Tag, ob heute, gestern oder noch eher, erkennen.

Auf diese Weise erfuhr ich, daß der Apachenhäuptling heute vormittag um neun Uhr hier gewesen sei. Da er hier nicht nötig zu haben glaubte, seine Fährte zu verwischen, so fand ich sehr bald die Spur seines Pferdes und folgte derselben. Ich fand den Ort, an welchem er in der heißesten Tagesstunde geruht hatte, und da stak auch das sichere Zeichen, daß er hierher zurückkehren werde, um sein Nachtlager hier aufzuschlagen. Dieses Zeichen bestand einfach aus einem kleinen, dünnen Pulverholzästchen, welches mit dem einen Ende im Boden steckte. Es konnte dazu jede Holzart, Holunder etc. etc. benutzt werden, deren Mark sich leicht entfernen läßt. Das sah so zufällig aus, daß der erfahrenste Trapper, der scharfsinnigste Wilde nicht auf den Gedanken gekommen wäre, hier vor einer deutlich lesbaren Schrift zu stehen. Auf solche Weise beherrscht man die öde Llano, die weite Prärie, das wilde Gebirge und den dichten Urwald. Durch solche unscheinbare Mittel sind Männer wie Winnetou, Old Firehand, der lange Hilbers, Fred Walker, Sam Hawkens und andere zu ihrer Berühmtheit gekommen. Ich kannte sie alle und hatte von ihnen viel, ja alles gelernt. Es ist mit dem wilden Westen wie mit dem Wasser: man darf nicht zagen, man muß sich, um schwimmen zu lernen, mutig hineinstürzen; es trägt den Menschen von selber, und die Lehrlingszeit vergeht um so schneller, je größeren Eifer man der Uebung widmet.

Ein Oelbrand (1882–1883)
KMW IV.27, S. 146 f.
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